Einer von vielen…

Ich sitze in der Bahn, schaue aus dem Fenster und schalte komplett ab. Die grauen, alten Häuser ziehen zusammen mit den Bäumen schnell am Fenster vorbei und meine Augen und Gedanken verlieren sich in der Endlosigkeit des Himmels, der nur von wenigen Wolken bedeckt ist. Auf einmal stoppt der Zug abrupt und eine Durchsage lässt mich aufhorchen. Eine weibliche Stimme teilt den Fahrgästen mit, dass es an der nächsten Station einen Unfall gab und dass wir deswegen kurz warten müssen. Unfall. Das Wort hallt in meinen Ohren wieder und vor meinem inneren Auge sehe ich jemanden, der auf die Gleise springt. Für kurze Zeit scheint er zu fliegen, dann aber stürzt er in die Tiefe und wird verschluckt von der einfahrenden Bahn. Warum. Ich frage mich das immer wieder. Was treibt einen Menschen dazu, auf so eine Art und Weise das eigene Leben zu beenden? Wie kann es sein, dass alles ausweglos erscheint? Und dann stelle ich mir die Bahnfahrer vor. Leute, die damit leben müssen, ein anderes Leben beendet zu haben. Unfreiwillig und doch für alle Ewigkeit. Sie können es nicht ungeschehen machen, haben keine Wahl. Sie werden dem Schicksal ausgesetzt bis in alle Ewigkeit diesen einen Augenblick nie vergessen zu können. Diesen grausamen Anblick, der Schock und vor allem mit dem Gefühl der Schuld, die eigentlich nicht ihre ist. Über all das mache ich mir Gedanken. Das Schlimmste ist eigentlich, dass ich weiß, als die Bahn losfährt, dass dieser Unfall in der morgigen Tageszeitung höchstens ein Dreizeiler wird. Einfach, weil dieser Unfall nur einer von vielen war. Es sind mittlerweile nämlich schon so viele, dass es fast schon zur Routine wird. Die Verzögerungen, die Durchsagen, die Dreizeiler in der Zeitung am nächsten Tag. Aber wie, frage ich mich, kann so etwas Grausames zur Routine werden?

19 Gedanken zu “Einer von vielen…

    1. Irgendwie finde ich, dass man da mehr machen müsste. Weiß auch nicht was, aber die Anzahl solcher Selbstmorde ist erheblich. Vielleicht irgendwelche Aufpasser, dass die Leute nicht zu nah an die Gleise gehen? Keine Ahnung, ist alles sehr unrealistisch, aber es passieren ja auch dauernd wirkliche Unfälle, wo Leute betrunken draufgeschubst werden oder selbst jemanden draufschubsen.

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      1. Red Skies Over Paradise

        Ich kann mich noch daran erinnern, als ich ihn, den Bericht, damals in der gedruckten DIE ZEIT las, dass mir die Tränen in den Augen standen.

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    1. Wahrscheinlich. Und doch scheint es als Außenstehender zu glatt zu verlaufen, zu problemlos. Als ob das Problem keine Probleme bereitet, als wenn es nur ein kleiner Zwischenfall ist, auf den man vorbereitet ist, der in ein paar Stunden wieder vergessen ist.

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      1. Wenn wir uns mit jedem Todesfall emotional auseinandersetzen würde, würden wir wahrscheinlich innerlich zu Grunde gehen. Ich würde es als eine Schutzfunktion des Menschen einstufen, so etwas mehr oder weniger zu verdrängen und gar nicht richtig an sich heran zu lassen.

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      2. Bei mir ist es unterschiedlich. Mal überrannt mich eine Gefühlsflut und das andere Mal kann ich sie für einige Zeit auf Abstand halten. Aber wenn ich sie verdrängen, dann wird sie immer größere und wenn die Gefühle schließlich ausbrechen, richten sie einen größeren Schaden an, weil sie sich aufgestaut haben.

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      3. Manchmal ist das wohl einfacher als gesagt. Oft scheint der Zeitpunkt unpassend, obwohl, wenn wir ehrlich sind, gibt es dafür wohl nicht den einen, richtigen Zeitpunkt.

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