Wissen. Die wohl größte Waffe überhaupt. Mit ihr kann man Macht haben. Viel Macht. Dementsprechend verspüren wir eine gewisse Gier danach. Auch in unpassenden Momenten.
Ich würde mich zu den Menschen zählen, die immer gerne alles wissen. Man könnte mich als wissbegierig bezeichnen. Negativ ausgedrückt auch als neugierig. Manchmal verspüre ich diese Gier aber auch nicht. In manchen Unterrichtsstunden beispielsweise, aber das ist ein anderes Thema.
Vor ein paar Tagen wurde meine Fensterscheibe in blaues Licht gehüllt und die bekannte Polizeisirene ertönte. Sehr laut. Sie verschwand nicht immer leiser werdend wie gewohnt, sondern die Lautstärke blieb konstant. Ich wusste, dass etwas passiert sein musste. In dem Moment packte mich meine Gier nach Wissen. Ich schaute aus dem Fenster und sah die Ursache der Sirene. Vor einem gelb blinkendem Bus lag eine dunkle Gestalt. Herum standen Menschen mit Warnwesten und Polizisten. Ich konnte nur wenig erkennen, weil mir eine Masse von Menschen die Sicht versperrte. Passanten. Neugierige Passanten. Aber anstatt zu helfen, schauten sie nur. Bildeten einen einheitlichen Kreis und befriedigten ihre Gier nach Wissen mit dem bloßen Schauen auf einen scheinbar verletzten Menschen.
In dem Moment, fand ich das abstoßend. Warum bleibt man da stehen? Helfen oder weitergehen, aber nicht bloß gaffen. Aber dann stellte ich noch etwas fest. Ich gehörte quasi zu ihnen. Ich selbst drückte mir schließlich die Nase an der Fensterscheibe platt, um ja ganz genau sehen zu können, was passiert war.
Ich hielt kurz inne und löste mich dann von der Scheibe. So wollte ich nicht sein. Und irgendwie fehlte mir in dem Moment das Verständnis für mein Handeln. Wenn man etwas wissen möchte, was einem hilft, dann ist das legitim und verständlich. Aber warum möchte man banales, etwas, was nichts mir einem zu tun hat wissen? Warum will ich so etwas wissen? Es interessiert einen. Pure Neugierde. Am schlimmsten ist es noch, wenn dann die Handys gezückt werden. Man will ja alles festhalten. Alles, was anders, außergewöhnlich ist, bringt schließlich Klicks. Und bei Klicks darf man auch mal die eigenen Moralvorstellungen vergessen. Wenn man denn dann welche hat. Traurig.
Ab dem Zeitprunkt habe ich bewusst darauf geachtet, nicht allzu neugierig zu sein, wenn ein Unfall passiert. Neugierde und das Leid Anderer passen einfach nicht zusammen. Für mich zumindest nicht.
Ich kenne das Problem aus dem Bereitschaftsdienst beim Roten Kreuz, wo man sich oft auch erst mal durch eine Herde kämpfen muss, um zum Patienten zu kommen. Das nervt unheimlich und ärgert einen auch sehr. Meist gibt es doch zwei oder drei, die aktiv helfen, ansonsten reicht es auch, wenn man nur den Notruf absetzt. Wer dann daneben steht, weil er Angst hat, etwas falsch zu machen, dann ist das nicht unbedingt toll, aber in Ordnung und der wird auch nicht schief angeschaut.
Ansonsten sind Gaffer im Dienst eigentlich relativ egal. Wichtig ist aus professioneller Sicht der freie Zugang zum Patienten und vor allem die Achtung der Würde des Patienten. Wenn ein Polizeibeamter oder ein Rettungsdienstler der Meute sagt, sie sollen schauen, dass sie Land gewinnen, dann meint er das nicht, weil es ihm Spaß macht (obwohl es das zugegebenermaßen schon tut…).
Bei der Würde fängt es dann wohl auch an, moralisch bedenklich zu werden. Wie würde man sich selbst fühlen, wenn man im Krankenhaus aufwacht und dann ein Video auf Facebook gezeigt bekommt, wie man vor dem Bus liegt, am besten noch mit Nahaufnahme des blutigen Gesichts, unverpixelt? Vermutlich nicht gut. Es ist auch interessant, wie wenige sich darüber bewusst sind, dass sie sich rechtlich in einem sehr schwierigen Raum befinden, sobald sie filmen. Recht am persönlichen Bild, und so.
Aus menschlicher Sicht ist die Faszination an tragischen Fällen sehr gut zu verstehen . Als Otto-Normal-Bürger sieht man nicht jeden Tag ein Unfallopfer oder einen Herzinfarkt oder ähnliches – das fasziniert, weil unweigerlich der Gedanke kommt „Das könnte auch mir passieren.“. Wir sind psychisch selten angreifbarer, als wenn wir live miterleben, wie sterblich und fragil wir eigentlich sind und wie schnell uns das Schicksal einholen kann. Als ich im Dienst anfing, da war ich auch fasziniert, vor allem, weil ich alles hautnah miterleben konnte. Zuerst eine Phase totaler Konzentration und dann ausgiebiges Mustern, wenn die Zeit dazu war. Heute interessiert mich das gar nicht mehr. Komme ich an einer Unfallstelle vorbei, halte ich an und checke ab, ob entsprechende Maßnahmen eingeleitet wurden, warte, bis die Kollegen kommen und bin dann wieder weg. Leid ist auch ein bisschen alltäglich geworden.
Von daher, ich glaube nicht, dass du dir da allzu viele Vorwürfe machen solltest. Für mich ist es weniger die Sensationslust oder Neugierde, sondern zu einem sehr großen Teil auch einfach nur menschlich. 🙂
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Erst einmal Hut ab vor diesem langen Kommentar! Es ist wirklich immer unheimlich spannend eine andere Sichtweise aufgezeigt zu bekommen. Und du hast mit der Faszination total Recht. Alles was sich von dem Einheitsbrei anhebt wird genauer betrachtet und erzeugt automatisch Aufmerksamkeit. Ich persönlich versetze mich nur immer in die Lage der verunglückten Person und bekomme dann ein ganz schlechtes Gefühl. Wenn ich auf dem Boden liegen würde, dann erwarte ich Hilfe oder besorgte Blicke von den herumstehenden Menschen und nicht Handys oder neugierige Blicke. Oftmals hört man auch davon, dass einer berühmten Person etwas passiert ist. Die Paparazzi vor Ort bemühen sich allerdings zuerst darum eine gelungene Aufnahme zu bekommen, bevor sie Maßnahmen zur Hilfe erreichen. Das ist mir total zu wider.
Danke nochmal. dass du dir die Zeit genommen hast diesen langen Kommentar zu schreiben. Das ist wohl die größte Anerkennung!
Liebste Grüße;
moteens
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Ich kann deinen Beitrag voll unterschreiben. Auf der einen Seite möchte man natürlich nicht zu den Gaffern zählen, auf der anderen Seite auch nicht zu denen, denen menschliche Schicksale sonstwo vorbeigehen. Wenn es irgendwie geht, versuche ich auf jeden Fall zu helfen.
Liebe Grüße, Achim
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Das ist auf jeden Fall die beste Einstellung und zeugt von Menschlichkeit!
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